Drift an Lehren
Rekalibrierung in angemessener Zeit
In einem Kalibrierlaboratorium für die Messgröße Länge tritt diese Situation immer wieder auf: Lehren, z. B. Lehrdorne für Bohrungen, liegen bei der ersten Kalibrierung innerhalb der Toleranzen nach DIN ISO 7150. Bei der nächsten Kalibrierung, je nach Prüfzyklus des Kunden meistens ein oder zwei Jahre später, halten sie die vorgeschriebenen Toleranzen nicht mehr. Hat sich der Durchmesser verkleinert, dann ist das in der Regel durch Abnutzung beim Gebrauch der Lehre plausibel zu erklären. Ist der Durchmesser größer geworden, dann erscheint das dem Kunden oft nicht verständlich; er fragt sich, ob das Kalibrierlabor wohl falsch gemessen hat.
Ein akkreditiertes Kalibrierlabor kann einen solchen Eindruck nur entkräften, indem es die Kalibrierung wiederholt und die Ergebnisse unter Berücksichtigung der Messunsicherheit miteinander vergleicht. Wenn dieser Vergleich der Kalibrierungen das Kalibrierergebnis bestätigt hat, bleibt die Frage, warum der Durchmesser größer geworden ist. In einigen Fällen ist es eine dünne Ablagerung, wie Zinn, auf der Oberfläche der Lehre, die vom bearbeiteten Werkstoff beim Kunden stammt und sich bei der Lehrung am Werkstück festgesetzt hat. Diese Ablagerungen lassen sich durch eine normale Reinigung der Lehre vor der Kalibrierung nicht entfernen.
Viel häufiger jedoch liegt eine Drift am Durchmesser durch Gefügeveränderung im Lehrenkörper vor. Der Hinweis auf Drift wird mit großer Skepsis vom Kunden aufgenommen, weil man "davon noch nie etwas gehört hat" und in der Literatur nur wenige Informationen darüber zu finden sind. Einen Hinweis auf mögliche Drift findet man in der Norm DIN EN ISO 3650 Parallelendmaße in Abs. 6 unter "Maßbeständigkeit". In der Tabelle 2 der Norm sind die max. zulässigen Werte für die Längenänderung pro Jahr aufgeführt.
Zum Know-how der Hersteller gehören unter anderem die Wahl des Werkstoffs und die einwandfreie Durchführung des Härteprozesses, um die Bildung von Restaustenit zu verhindern. Als Werkstoff für Lehren und Parallelendmaße werden häufig der als Lehrenstahl bekannte 100Cr6 oder vergleichbare Legierungen verwendet. Für die Hersteller ist es wichtig, einen verlässlichen Stahllieferanten zu haben, der eine gleichbleibende Qualität der bestellten Stahlsorten gewährleisten kann. Für jede Stahlsorte wird in Abstimmung mit der Härterei der Härteprozess in seinen Arbeitsschritten mit den notwendigen Parametern genau festgelegt. Auch hierbei ist der Hersteller auf einen verlässlichen Partner angewiesen, der die Verfahrensanweisungen genauestens einhält und dokumentiert. Abweichungen beim Härteprozess können zur Bildung des unerwünschten Restaustenits führen.
Austenit ist relativ instabil und wandelt sich durch thermische und mechanische Einflüsse in Martensit um. Die Umwandlung erfolgt durch ein Umklappen vom Austenit mit kubisch flächenzentriertem Raumgitter in Martensit mit einem tetragonalen raumzentrierten Raumgitter. Beim kubisch flächenzentrierten Gitter ist die Packungsdichte größer als im tetragonal raumzentrierten Gitter, was bei der Umwandlung zu einer Volumenzunahme und damit auch einer Längenzunahme führt. Die Umwandlung von Restaustenit in Martensit kann sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Die Größe der Volumen- oder Maßveränderung lässt sich nicht vorher bestimmen, da sie vom relativen Anteil des Restaustenits abhängig ist, der wiederum bei einem gut abgestimmten Härteprozess gegen null geht.
Für das Braunschweiger Kalibrierlaboratorium Perschmann wurde im April 2009 ein kalibrierter Gutlehrdorn 90 H6 für Einstellarbeiten angeschafft. Bei einer Zwischenprüfung im November 2009 wurde eine Differenz zum kalibrierten Durchmesser von plus 3,1 µm festgestellt. Bei einer erweiterten Messunsicherheit von U = 0,6 µm war die festgestellte Differenz so groß, dass Maßnahmen ergriffen werden mussten. Der Lehrdorn wurde nicht weiter eingesetzt und für eine Langzeituntersuchung eingelagert. Bei vier weiteren Überprüfungen bestätigte sich die festgestellte Drift, bis September 2010, also in 14 Monaten, insgesamt 7,8 µm.
Der Versuchsablauf wurde ab diesem Zeitpunkt geändert. Mit vier Stunden Anlassen bei 230 °C bis 250 °C und anschließendem Abkühlen in einem kleinen Versuchsofen sollte die Drift gestoppt werden. Überprüfungen in unregelmäßigen Abständen haben ergeben, dass eine Drift nicht beseitigt werden konnte, sie sich aber deutlich verringert hat. Bis zum Januar 2014 betrug die Drift in 40 Monaten seit dem Anlassen nur noch 2,2 µm, insgesamt seit Beginn der Untersuchung 9,9 µm.
Die am Lehrdorn festgestellte Drift war ungewöhnlich groß. Bei Parallelendmaßen ist die Drift in der Regel um den Faktor 10 bis 20 kleiner, bei sehr guten Parallelendmaßen praktisch nicht vorhanden. Diese relativ kleine Drift kann bei Parallelendmaßen schon nach ein bis zwei Jahren dazu führen, dass die Toleranzklasse nach DIN ISO 3650 nicht mehr eingehalten wird und der Endmaßsatz neu klassifiziert werden muss. Bei Lehren kann eine vorhandene Drift durch Abnutzung bei häufigem Gebrauch überdeckt werden, sie kann dann für den Anwender unschädlich sein bzw. sie wird nicht festgestellt.
Lehren und Parallelendmaßen sieht man die innere Gefügestruktur nicht an, der relative Anteil von Restaustenit ist nicht zu erkennen. Da aber die Wahl von hochwertigem Material und aufwendige Härteprozesse die Qualität entscheidend positiv beeinflussen, spiegelt sich dieser Aufwand im Preis wider. Das Preis-Leistungs-Verhältnis für Lehren und Parallelendmaße mit einer hohen Maßstabilität wird erst über die Jahre der Anwendung erkennbar.
Um bei Lehren und Endmaßen Drift ausschließen zu können, ist es dringend zu empfehlen, eine Rekalibrierung in einem angemessenen Zeitraum durchführen zu lassen und das Ergebnis mit der Erstkalibrierung nach der Anschaffung zu vergleichen. Aus den eventuell festgestellten Maßänderungen lassen sich Hinweise auf eine Drift oder auch Abnutzung und damit auch auf sinnvolle Prüfzyklen ableiten.
Heiner Klimke
Perschmann Calibration GmbH
www.perschmann-calibration.de
Perschmann Calibration GmbH
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